Ameisen sind perfekt an jede ökologische Nische angepasst, kommunizieren mit ausgeklügelten Duftstoffen und haben so komplexe Lebensweisen entwickelt, dass sie BiologInnen ihr ganzes Leben faszinieren. Ein Besuch bei Ameisenforscher Bernhard Seifert in Görlitz
Wer einmal in ein Ameisennest hineinschaut, sieht die Wildnis im Mikrokosmos. Chaotisch scheinen die Ameisen hin- und herzulaufen, die eine schleppt einen Kiesel heraus, die andere ein Samenkorn hinein, zwei rasen aufeinander zu, beschnuppern sich, drehen ab. Unsichtbar folgen die Ameisen einem Plan, verständigen sich mit Duftstoffen, markieren damit ihre Wege über Stock und Stein. Sie haben einen Duft, um auf Futter hinzuweisen und verwirren mit Chemie und Giftstoffen ihre Gegnerinnen im Krieg.
Ihre Lebensweisen sind komplex, sie halten Blattläuse und züchten Pilze so wie die Holzameise, andere jagen Mücken, Falter und Fliegen, sie vernichten das Skelett eines Eichelhähers, sammeln Samen und schleppen tote Ameisen zu ihrer letzten Ruhestätte. Damit sie im Winter nicht erfrieren, schichten Waldameisen Myriaden von Kiefernnadeln, Fichtenzweiglein, Holzstückchen zu einem Hügel, der in extremen Kälteregionen die Größe einer Ein-Zimmer-Wohnung haben kann.
Ameisen machen Raubzüge, besetzen die Territorien der konkurrierenden Arten und schneiden mit Gartenscherenartigen Gebissen die Arme und Antennen der anderen ab. Wer je von einer Ameise gebissen wurde, zweifelt nicht, dass ihr Biss für andere Lebewesen tödlich sein kann. Sie verteidigen ihresgleichen und ihr Nest mit ihrem Leben, sind supersozial und bilden erst mit Tausenden, Millionen Ameisen den atmenden, fressenden, sterbenden, gebärenden Organismus, der die Art sichert.
Ameisen haben es noch nicht in den Bundestag geschafft
Die nächsten Verwandten der Ameisen sind die Bienen, doch anders als die niedlichen Honigbienen haben es Ameisen noch nicht bis in den Bundestag geschafft. Dabei sind sie wie die Honigbienen systemrelevant. Wälder, Wiesen und sogar Parks und Gärten würden ohne Ameisen anders aussehen. Sie verbreiten Samen von Kräutern und Gräsern und tragen die blühende Vielfalt in die hintersten Winkel. Sie ackern den ganzen Tag rum, säbeln Holz, zerkleinern trockene Blätter und schichten tonnenweise Erdreich im Jahr um. Sie lockern ebenso wie Regenwürmer die Böden und schaffen damit die Basis für das Leben in Grün. In Wäldern halten sie Baumschädlinge kurz. Imkerinnen schätzen die Ameisen und ihre Blattlausherden, aus deren Honigtau die Bienen Honig machen.
„Der oft zitierte stumme Frühling ist längst dabei, Realität zu werden“, warnt Beate Jessel, Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz (BfN). Sie spielt damit auf das Buch „Stummer Frühling“ der amerikanischen Biologin Rachel Carson an, das zum Verbot des Insektengifts DDT führte. Carson erklärte ihren Landsleuten, dass die Vögel sterben wenn es keine Insekten gibt. Ameisen sind hierzulande Grundnahrungsmittel für Grünspecht, Grauspecht und Wendehals. Bunt- und Schwarzspechte kommen ohne Ameisen nicht durch den Winter und auch Dachse schätzen die Eiweißreichen Larven der Waldameisen.
Straßen, Gülle und Pestizide bedrohen die Ameisen
Was in den 1960er und 1970er Jahren das DDT war, schaffen heute Glyphosat und die Neonicotinoide. Das große Insektensterben erfasst daher auch Ameisen. Allein in Deutschland stehen die meisten Arten auf der Roten Liste als vom Aussterben bedroht, stark gefährdet oder extrem selten. Die wärmeliebende Crematogaster sordidula ist bereits verschollen. Mal betonieren Bauarbeiter den Lebensraum der Ameisen, mal kippen Bauern Gülle auf den Trockenrasen oder sprühen Pestizide bis an den Waldrand.
„Ameisen verschwinden leiser und unbemerkter unter unseren Füßen als Bienen“, sagt Olaf Tschimpke, Präsident des Naturschutzbund Deutschland NABU. „Wir müssen dringend ihre Lebensräume sichern und die EU-Agrarpolitik naturverträglich gestalten.“ Tschimpke erinnert daran, dass der wissenschaftliche Beirat von Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner dringend empfohlen hat, Landwirte und Waldbesitzer zu belohnen, wenn sie sich für die Natur einsetzen. „Nur mit einer naturverträglichen Agrarpolitik werden Schmetterlinge, Bienen und Ameisen überleben und weiterhin ihre wichtigen Dienste für Mensch und Natur leisten können.“
Waldameisen entscheiden über die Ökologie des Waldes
Mehr als 1000 Nester von Waldameisen mussten 2017 weichen, damit Berlin die neue Autobahn 100 durch die stadtnahen Wälder treiben konnte. Waldameisen entscheiden über die gesunde Ökologie eines Waldes und stehen seit 200 Jahren unter Naturschutz. Sie dürfen nicht gestört oder ihre Nester ausgehoben werden, doch gegen Autobahnen sind in Deutschland auch die seit 13 Millionen Jahren an ökologische Nischen angepassten Ameisen machtlos.
Also wurden die Waldameisen ausgebuddelt, die Eierlegenden Königinnen in Marmeladengläsern gesammelt und die Hügel samt Hundertausenden Arbeiterinnen woanders wieder angesiedelt. „Das klappt meistens nicht“, sagt Bernhard Seifert, der Auge in Auge mit der Roten Waldameise in der Lausitz und in finnischen Wäldern gelebt hat. Seifert leitet die Abteilung Pterygota/Fluginsekten am Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz. Er schätzt, dass grad mal 15 Prozent der Kolonien nach der Umsiedlung an dem neuen Platz heimisch werden und überleben.
Jede Art in ihrer ökologischen Nische
„Jede einzelne Art hat ihre ganz unterschiedliche ökologische Nische“, sagt Seifert, Leiter der Abteilung Pterygota/Fluginsekten am Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz. „Zwei Arten können nicht in der gleichen ökologischen Nische leben.“ Das gilt für alle Tierarten. Ameisen leben jedoch nicht nur in ökologischen Nischen – sie bilden selbst eine ökologische Nische. Weltweit haben sich die Tagfalter der Bläulinge an das Leben der Ameisen angepasst, ja sind teilweise vollkommen von einer bestimmten Ameisenart abhängig.
Die Raupen der Bläulinge geben ein Nektarähnliches Sekret ab, auf das die Ameisen ganz wild sind. Um daran zu kommen, passen sie auf die Raupen auf, halten feindliche Wespen ab und kümmern sich um die Raupen wie um ihre eigenen Larven. Die Bläulinge wachsen also unter Ameisen auf und können teilweise nicht ohne sie überleben. Nun sind die Bläulinge nicht irgendein Schmetterling, sondern bilden etwa ein Drittel aller bekannten Tagfalterarten. Weltweit.
Ameisen brachten Edward Wilson auf den Begriff der Biodiversität
Rund um Ameisenkolonien wuseln, wimmeln, wachsen und gedeihen besonders viele Viecher und Pflanzen. Der US-amerikanischen Ameisenforscher Edward O. Wilson kam in den 1980iger Jahren darauf, das harmonische Durcheinander als Biodiversität zu bezeichnen. Er erkannte, dass nicht eine Art entscheidet, sondern erst alle Tiere, Pilze, Pflanzen zusammen die biologische Vielfalt ergeben, die das Leben sichert. Ameisen haben den Wissenschaftler gelehrt, das Ganze zu betrachten, wenn auch nicht gleich zu verstehen. Wilsons Entdeckung der biologischen Vielfalt war damals revolutionär. 200 Jahre lang waren Biologen damit beschäftigt gewesen, die Natur zu spalten, die Einzelteile als Art zu benennen und zu erforschen.
Der Naturklassifizierer Linné hatte im 18. Jahrhundert angefangen, die natürliche Vielfalt zu trennen. Als „eine Art“ bezeichnen BiologInnen seitdem ein Tier, das bestimmte Merkmale hat und sich damit von einem anderen Tier abgrenzt, auch wenn die Ähnlichkeit noch so groß ist. Zwei Arten können sehr ähnlich sein und dennoch andere Nahrung fressen und andere Fähigkeiten besitzen, um unterschiedliche Lebensräume zu besetzen. Für jede diese Fähigkeiten hat eine Art die für sie besten Zähne, Ohren, Fühler, Füße, Federn entwickelt. Jedes Tier hat damit draußen im Wald, Moor, auf den Bergen und an den Flußufern seinen Platz.
Perfekt an den Lebensraum angepasst
Ameisen haben sich je nach Art in den vergangenen 13 Millionen Jahren perfekt an ihren jeweiligen Lebensraum angepasst, sei der nun im Moor oder im Geröll. Soweit bekannt leben 114 Ameisenarten in Deutschland, in Mitteleuropa sollen es 175 sein. Bernhard Seifert hat allein 10 neue europäische Arten in den vergangenen 40 Jahren entdeckt, darunter die Schweizer Gebirgsameise und mehrere enge Verwandte der Schwarzen Wegameise. Die kennen auch Städter, denn sie brütet unter Pflastersteinen und fällt manchmal auf, weil sie ihre Miniaturstraßen überdacht. Weltweit rechnen BiologInnen mit 17.000 Ameisenarten, doch auch die Zahl kann steigen. Und sinken.
Bernhard Seifert entdeckt die Feinheiten der biologischen Vielfalt unter dem Mikroskop. Er misst die Neigung von Stirnleisten, die Länge der Schenkel, beschreibt die Lage der Kopfseiten vor den Augen und die Pigmentierung der Fühlerkeulen. Mit diesen Daten unterscheidet er einzelne, auch noch so ähnliche Arten. „Es macht einen Unterschied ob ich von hier messe“, sagt Seifert heute bei 28 Grad in khakifarbenen Shorts und zeigt mit dem Finger auf seine nackte Kniescheibe. „Oder von hier“ und deutet auf den Knochen am oberen Ende seines Unterschenkels.
Klauen wie Säbelzahntiger
Mit zartgliedrigen Fingern schiebt Seifert den Plexiglasdeckel von einer Holzkiste, nimmt aus einer Reihe von Pappkärtchen samt darauf geklebten Ameisen eine Nadel mit Kärtchen und Ameise, steckt sie in ein 180 Grad in jede Richtung bewegliches Kissen unter dem Mikroskop, rollt im Schreibtischstuhl heran, äugt ins Mikroskop und fixiert das Objekt. Bei einem Blick hindurch wird deutlich, dass nichts einfach mal so entstanden sein kann. Jedes Haar rund um das Ameisenmaul hat seinen Sinn, jede Kerbe im Oberkiefer nützt dem Millimeter großen Tier in seinem Lebensraum. Die einen besitzen Klauen wie ein Säbelzahntiger, die andere Ameise zwackt sich mit Zangen durchs Gebüsch. Im Detail zeigt sich das ganze Tier.
Wie zwei Halbinseln ragen links und rechts von Seiferts Mikroskop tellergroße Holzplatten von der Arbeitsfläche in den Raum. Seifert hat sie an den Tisch geschraubt, gepolstert noch mit einem Hirsekissen rechts und einem weißen Stoffsonnenhut links, auf die er seine Arme ablegt, um die Wirbelsäule beim stundenlangen Starren durch das Oberkörperlange Mikroskop zu stützen. „Die Bandscheiben sind ruiniert“, sagt Seifert, auch sich selbst nüchtern beschreibend. Trotz offensichtlicher Nackenstarre schreitet er flink zwischen Regalen, Laborschränken, Teeküche und Computertisch, weist im Vorbeigehen auf ein Päckchen, das ihm Insektenkundler von der Universität Tokio geschickt haben.
Ameisenforscher Seifert gehört als Taxonom zu einer aussterbenden Art Biologen
Seifert gehört zu den weltweit anerkannten Taxonomen, also der aussterbenden Gattung von Biologen, die sich auf eine Ordnung von Insekten oder anderen nur im Detail zu bestimmenden Tieren spezialisiert haben. Wir kaum ein Zweiter kennt Seifert Ameisen, die er schon als sechsjähriger Junge in einer Arena seiner Sandkiste gegeneinander kämpfen ließ. Mit elf Jahren kennt er das Kinderbuch über Ameisen in der DDR auswendig, an ein anderes kommt er nicht heran. Da sein Mikroskop nicht gut genug ist, um Ameisen genau genug zu untersuchen und seine Neugier zu befrieden, beobachtet er Vögel. Das geht mit dem bloßen Auge. Er studiert Neurobiologie und Tierphysiologie in Leipzig und hat an der Universität endlich Zugang zu Mikroskopen und Fachbüchern.
„Zur Entspannung“ beobachtet Seifert noch heute Mauersegler und Rotmilan und steht morgens um 3.30 Uhr auf, um den neu zugeflogenen Wanderfalken in Görlitz zu sehen. „Da kann ich mal was im Stehen machen, muss nicht immer am Boden rumkriechen“, sagt Seifert, wedelt mit der Hand gen Boden und taxiert dort was. „Man muss das wollen“, sagt Seifert, der seine KollegInnen in den 1990iger Jahren mit seinen Beobachtungen zu Hybridformen und Artvermischungen von Waldameisen nervte. „Damals war das Frevel von Hybriden zu sprechen“, sagt Seifert und starrt mit blauen Augen auf den Computermonitor, auf dem sich die Daten verteilen wie Ameisen auf einem Nest. Anhäufungen, verwirrende Wege, Kurven in Graphen und Tabellen, Einzelbeschreibungen, die seine Beobachtungen im Wald und unter dem Mikroskop belegen. Heute sind sie wissenschaftlich anerkannt.
Mit missionarischem Eifer
Mit Händen wie ein Klavierspieler hat er seit 1981 im Naturkundemuseum Görlitz die Sammlung von Ameisen-Präparaten aufgebaut, die seine Vorgänger 1840 begründeten. Schublade um Schublade stecken in einem mannshohen Schrank, halb so lang wie Seiferts Labor. In jeder Lade reihen sich Ameisen auf Nadeln und Pappkärtchen, manche Tiere nicht größer als ein Stecknadelkopf. Die Ameisen in Seiferts Sammlung sind sogenannte Typus-Exemplare, was bedeutet, dass sie maßgeblich für die Bestimmung ihrer Art sind. „Das Rückgrat der Ökologie ist die Sammlung“, sagt Seifert. Wenn es die erstarrten Ameisen auf den Pappkarten nicht mehr gibt, herrscht wissenschaftlich gesehen da draußen wieder das große Chaos.
Junge InsektenkundlerInnen forschen heutzutage meistens Gene und Hirnströme und krauchen nicht monatelang durchs Unterholz. Sie können Tiere nicht unter dem Mikroskop bestimmen, da sie im Studium keine Zeit haben, die Genitalspalten von Springspinnen zu messen. Wenn die jungen ForscherInnen wissen wollen, welche Ameise, Spinne, Käfer sie gefunden haben, schicken sie ein Exemplar an Leute wie Seifert. Ein paar Taxonomen arbeiten noch, jeder spezialisiert auf einzelne Gattungen, die im Detail helfen, das große Ganze zu verstehen. „Man muss visuell was drauf haben, um die Arten zu bestimmen“, sagt Seifert. „Und man braucht missionarischen Eifer.“
Die Ameisen schafften es mit diesem Text auf die Seite 1 der taz. Erschienen am 8. Juni 2018 in der tageszeitung.